Gastinterview 150 Jahre München–Simbach

Dieses Bild vom Orientexpress entstand 1896 beim Grenzaufhalt in Simbach. (Bild: Sammlung Alfred Baumgartner: alle Rechte vorbehalten)

Herr Bürger, im Jahr 1871 nahmen die Königlich Bayerischen Staatsbahnen die Hauptbahn von München über Mühldorf am Inn bis zur deutsch-österreichischen Grenze bei Simbach in Betrieb. Warum wurde die 115 Kilometer lange Strecke damals gebaut?

Karl Bürger: Die Strecke München–Simbach und ihre österreichische Verlängerung sollten die betrieblich schwierige Strecke über Großhesselohe–Holzkirchen–Rosenheim–Traunstein entlasten und vor allem den internationalen Verkehr zwischen Paris und Wien beschleunigen. Schließlich war die Strecke über Simbach rund 40 Kilometer kürzer und geradliniger. Außerdem spielten die Forderungen der Militärs eine wichtige Rolle: Nach dem Krieg von 1866 hatte man sowohl in Bayern als auch in Österreich erkannt, dass militärische Operationen nur dann Erfolg haben, wenn die Truppenbewegungen und der Nachschub auf schnellstem Wege erfolgen – und das ging nur mit der Eisenbahn.

Welche Züge fuhren damals?

Dem „gemeinen Publicum“ standen zwei Postzüge mit „I., II. und III. Classe“ und ein Güterzug mit Personenbeförderung (nur III. Classe) jeweils in beiden Richtungen zur Verfügung. Das „erlauchte Publicum“ fuhr in den so genannten Courierzügen – das war ein Schnellzugpaar zwischen Paris und Wien, das nur die teuren Wagenklassen („I. und II. Classe“) führte. Die Courierzüge hielten ab 1873 nur in Haidhausen (ab 1876: München Ost), Mühldorf und natürlich im Grenzbahnhof Simbach zur Pass- und Zollkontrolle. Die Post- und Güterzüge hielten an jeder Station.

Neben den Courierzügen ist hier sogar der Orient-Express gefahren.

Der König der Züge, der luxuriöse Orient-Express, fuhr hier zwischen 1883 und 1897. Es war die glanzvollste Zeit der Simbacher Strecke, allerdings hielt dieser Zug nur in München und in Simbach an der Grenze, aber nicht unterwegs. Anfangs fuhr der Orient-Express nur zwischen Paris und Wien, später bis Budapest und ab 1888 bis Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Von 1909 bis 1914 waren auf dem Abschnitt München–Mühldorf noch einmal internationale Schnellzüge unterwegs. Ab Mühldorf fuhren sie dann allerdings nicht mehr über Simbach, sondern über Freilassing weiter nach Süden zur Hafenstadt Triest an der Adria. Mit der Mobilmachung 1914 endete der Schnellzugverkehr auf der Strecke. Fortan ging es eher beschaulich zu.

Die Strecke München–Mühldorf–Simbach hat viel an Bedeutung verloren. Warum?

Die Simbacher Strecke geriet schon nach der Inbetriebnahme der Bahnlinie Haidhausen–Grafing–Rosenheim 1871 ins Abseits. Durch die Abkürzung über Grafing entwickelte sich die Verbindung München–Rosenheim–Salzburg zu einer leistungsfähigen Magistrale. Erst recht ab 1892, als sie zweigleisig ausgebaut war. Die Simbacher Strecke dagegen blieb eingleisig. Das war fatal und brachte den Bedeutungsverlust.

Aber 1909 wurde mit dem zweigleisigen Ausbau von München aus begonnen.

1911 erreichte das zweite Gleis die Station Schwaben, das heutige Markt Schwaben. Dann fraß die Rüstung die Steuergelder – und das zweite Streckengleis endete dort. Lediglich das kurze Stück von Ampfing bis Mühldorf ist seit 2017 auch zweigleisig. Auch der Zweite Weltkrieg verhinderte den Streckenausbau, danach blieben Investitionen jahrzehntelang aus. In den 1970er Jahren wollte man den 33 Kilometer langen Abschnitt Töging–Simbach sogar stilllegen. In Hörlkofen, Schwindegg und Weidenbach gibt es heute noch Stellwerke aus dem Jahr 1900, die ins Museum gehören.

Die Simbacher Strecke hat aber große Bedeutung für den Güterverkehr.

Ab 1908 haben sich in diesem Gebiet zwischen Trostberg, Töging und Burghausen an der Salzach viele Betriebe der chemischen Industrie angesiedelt. Nach dem Bau der Raffinerie Burghausen Mitte der 1960er Jahre entwickelte es sich zu einem wichtigen Standort der petrochemischen Industrie. Die Simbacher Strecke zählt heute zu den am stärksten befahrenen eingleisigen Hauptbahnen in Deutschland, auf der ein beachtlicher Güterverkehr vom und zum bayerischen Chemiedreieck abgewickelt wird.

Wie hat sich die Simbach-Strecke in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt?

1985 wurde die Ausbaustrecke (ABS) 38 München–Mühldorf–Freilassing in den Bundesverkehrswegeplan aufgenommen. Seitdem werden der zweigleisige Ausbau und die Elektrifizierung geplant, wenigstens für einen Teil der Simbach-Strecke, nämlich für den Abschnitt München–Mühldorf. Fehlende Finanzmittel nach der Wiedervereinigung 1990 und nach der Finanzkrise 2008/09 wirkten sich allerdings negativ aus. Dass die ABS 38 nach 36 Jahren immer noch nicht verwirklicht ist, lag am fehlenden Geld und am mangelnden politischen Willen.

Sie wohnen in Walpertskirchen. Wie ist die Stimmung dort?

Vor 20, 30 Jahren haben die Pendler die ABS 38 noch herbeigesehnt. Seit der Inbetriebnahme der fast parallel verlaufenden Autobahn A 94 Ende 2019 sind allerdings viele aufs Auto umgestiegen. Die Stimmung hat sich gedreht. Nun befürchten viele, dass der Streckenausbau und die Elektrifizierung ihre Ruhe gefährden. Kaum jemand sieht mehr die Riesenvorteile. Ich persönlich kann diese Hysterie um den Lärmschutz nicht nachvollziehen. Mein Haus steht 42 Meter von der Gleisachse entfernt und ich kann Ihnen sagen: Die heutigen Dieselzüge sind laut. Vor allem die schweren Sechsachser vom Typ Class 66, die im Güterverkehr rund um Mühldorf fahren. Mit der ABS 38 bekommen wir – nach einer lauten Bauphase – wesentlich leisere elektrische Lokomotiven und Triebwagen. Das wollen viele nicht erkennen.

Sie befürworten den zweigleisigen Ausbau und die Elektrifizierung?

Auf jeden Fall. Die ABS 38 ist wichtiger und notwendiger denn je – für den Klimawandel und für die Verkehrswende. Und sie könnte die Strecke München–Rosenheim–Salzburg entlasten, wenn dort nach dem Bau des Brennerbasistunnels der Verkehr zunimmt.

Historiker, Autor, „Museumsdirektor“

Karl Bürger hat bis zur Pensionierung im Jahr 2011 als diplomierter Verwaltungswirt erst bei der Bundespost im Fernmeldedienst und später bei der Deutschen Telekom gearbeitet. Er hat mehrere Bücher zur Verkehrspolitik und der Eisenbahn in der Region im Selbstverlag herausgebracht. Außerdem betreibt Bürger am Haltepunkt Walpertskirchen ein kleines Eisenbahnmuseum – eine 130 Jahre alte „königlich bayerische“ Wärterbude mit originalem Interieur und drei Formsignalen.